Sonntag, 31. August 2008

Gefühlte Inflation

Gefühlte Inflation
"Korrekte Studien provozieren die Verbraucher"

Prof. Brachinger: "Gefühlte Inflation liegt zur Zeit bei 9,6 Prozent" Euro=Teuro? Zwar sprechen sämtliche Statistiken gegen eine außergewöhnliche Verteuerung, aber entscheidend sei die "gefühlte Inflation". Warum die viel höher ist als die amtlich gemessenen Daten, erklärt der Statistik-Professor Wolfgang Brachinger.Professor Brachinger, was ist die "gefühlte Inflation"?Die offizielle amtliche Statistik wird über einen repräsentativen, theoretischen Warenkorb ermittelt. Sie hat vor allem ein Ziel: Sie soll ein Indikator für die Geldwert-Stabilität sein. Das interessiert den Verbraucher aber herzlich wenig. Vielmehr stellt er etwas ganz anderes fest: nämlich die Preisveränderungen der Produkte, die er alltäglich einkauft. So ergibt sich eine individuell unterschiedlich wahrgenommene Inflation.

Zur Person
Prof. Dr. Hans Wolfgang Brachinger leitet an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Universität Freiburg Schweiz das Seminar für Statistik. In Zusammenarbeit mit dem Statistischen Bundesamt hat er den Index der wahrgenommenen Inflation in Deutschland berechnet.

Was beeinflusst die subjektive Wahrnehmung der Inflation?

Zwei Punkte sind wesentlich:1. Preissteigerungen bleiben stärker im Gedächtnis als Preisrückgänge; sie werden auch verhältnismäßig stärker bewertet als Rückgänge. Das hat die empirische Forschung zweifelsfrei festgestellt.2. Bei häufig gekauften Gütern werden Preisveränderungen stärker registriert als bei selten gebrauchten Produkten - unabhängig von der Höhe des Preises.

Haben Sie dafür ein konkretes Beispiel?

Wer sich jeden Tag Brötchen kauft, ärgert sich stark und nachhaltig über eine Preiserhöhung um 10 Cent. Aber wenn ein Computer 300 Euro weniger kostet als vor einem Jahr, dann wird das kaum wahrgenommen. Bei einem Computer verfolgen die meisten nicht jeden Tag die aktuelle Preisentwicklung, einen neuen kauft man sich ja auch nur alle paar Jahre.

Sie haben einen "Index der wahrgenommenen Inflation" (IWI) aufgestellt, der die gefühlte Verteuerung misst. Wie lassen sich die psychologischen Einflussfaktoren berechnen?

Langjährige empirische Forschung - unter anderem von einem Nobelpreisträger - hat ergeben, dass Konsumenten im Durchschnitt Verluste genau doppelt so hoch bewerten wie Gewinne. Das heißt: Eine Preissteigerung wird doppelt so stark wahrgenommen wie ein Preisrückgang in gleicher Höhe.
Dieser Parameter fließt in unsere Berechnungen ein. Desweiteren gewichtet unser IWI entsprechend stark die am häufigsten gekauften Güter wie zum Beispiel Brötchen und Tageszeitungen. Da haben wir genaue Daten für unsere Statistik.

Wie hoch ist die wahrgenommene Verteuerung zur Zeit?

2005 lag die wahrgenommene Inflation durchschnittlich über 8 Prozent, im Dezember gar bei 9,6 Prozent - ein Vielfaches über dem offiziellen Verbraucherpreisindex.

Wann gab es in den vergangenen Jahren die stärksten Ausschläge?

Anfang 2001 ging es damit los, dass die gefühlte Inflation deutlich über den amtlichen Verbraucherpreisindex stieg. Anfang 2002 dann, als das Euro-Bargeld eingeführt wurde, erreichte die wahrgenommene Inflation Spitzenwerte von knapp 10 Prozent - während die offizielle Inflationsrate die ganze Zeit über stabil zwischen 1 und 3 Prozent pendelte.

Nun ist die Einführung der europäischen Währung schon vier Jahre her. Warum wird dem Euro immer noch die Schuld an der Verteuerung gegeben?

Womit kaum jemand gerechnet hatte: Bei einer Währungsumstellung gibt es einen starken "Anker" zur alten Währung; die Deutschen vergleichen heute die aktuellen Preise immer noch mit ihrer geliebten Mark. So sind vielen Menschen die Preise vor allem von 2000 und 2001 noch gut im Gedächtnis. Dabei wäre das so, als ob zum Beispiel 1998 jeder die Preise mit denen von 1993 verglichen hätte - aber auf diese Idee kam damals wohl kaum jemand.

Ist die wahrgenommene Inflation viel wichtiger als die offizielle für die Erklärung bestimmter wirtschaftlicher Effekte, wie zum Beispiel die anhaltende Kaufzurückhaltung?

Es gibt durchaus Anhaltspunkte, die diesen Verdacht nahe legen. Aber das müssen wir noch genauer erforschen.Ein Fazit Ihrer Forschung lautet also: Offizielle Statistiken können noch so oft belegen, dass der Teuro eine Mär ist - das ändert nichts an dem subjektiven Empfinden der Mehrheit der Verbraucher?

Richtig. All die korrekten, seriösen Studien, die immer wieder angeführt werden, haben vor allem einen Effekt: Sie provozieren nur den einzelnen Verbraucher. Die Ergebnisse stehen nämlich stets seinen persönlichen Erfahrungen entgegen. Aber die subjektive Wahrnehmung ist - aus seiner Sicht - natürlich die reale, die einzig richtige.

Interview: Sönke Wiese

Quelle: http://www.stern.de/wirtschaft/finanzen-versicherung/553552.html